Verschiedene Weisungen über die Übung der Tugenden
Dritter Teil
     
 

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28. Kapitel
Das freventliche Urteil.

„Richte nicht, und du wirst nicht gerichtet werden“, sagt der Heiland unserer Seele, „verurteile nicht, und du wirst nicht verurteilt werden“ (Lk 6,37). Und der Apostel sagt: „Richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt. Er wird auch das im Dunkel Verborgene ans Licht bringen und die Gesinnung der Herzen offenbar machen“ (1 Kor 4,5).
Wie sehr missfällt Gott doch das freventliche Urteilen! Es ist freventlich: 1. weil kein Mensch Richter des anderen ist; wenn also jemand urteilt, maßt er sich die Richterwürde des Herrn an; 2. weil die wesentliche Bosheit der Sünde in der Absicht, in der Gesinnung des Herzens liegt, die für uns im Dunkel verborgen bleibt; 3. weil jeder genug zu tun hat, über sich selbst zu richten, ohne sich außerdem das Richten über seine Mitmenschen erlauben zu können.
Um nicht gerichtet zu werden, ist beides gleicherweise notwendig: wohl nicht über die anderen aber über dich selbst zu urteilen. Wie uns der Herr das erste verbietet, so gebietet uns der Apostel das zweite: „Wenn wir uns selbst richteten, würden wir nicht gerichtet werden“ (1 Kor 11,31). Aber, o Gott, wir tun genau das Gegenteil! Was uns verboten ist, das tun wir unaufhörlich; wir urteilen über den Nächsten bei jeder Gelegenheit; uns selbst aber richten, wie uns geboten ist, das wollen wir niemals.
Das freventliche Urteilen müssen wir in seinen Ursachen bekämpfen. Es gibt Menschen mit verbittertem, essigsaurem, vergrämtem Charakter, die alles bitter und sauer machen, was sie anfassen, und wie der Prophet Amos (6,3) sagt, jedes Urteil mit Wermut tränken, die über den Nächsten nicht anders als mit unerbittlicher Strenge urteilen. Ihnen tut vor allem Not, in die Hände eines guten Seelenarztes zu kommen; da ihnen diese Bitterkeit des Herzens angeboren ist, kann sie nur schwer überwunden werden. Sie ist zwar keine Sünde, sondern ein Charakterfehler, eine Unvollkommenheit, sie ist dennoch gefährlich, denn durch sie dringen freventliches Urteil und üble Nachrede in die Seele ein und halten sie umklammert.
Manche Menschen urteilen freventlich nicht aus Verbitterung, sondern aus Stolz. Sie meinen ihre eigene Ehre in dem Maß zu steigern, als sie die des anderen herabsetzen: freche und anmaßende Leute, die sich selbst bewundern und sich so erhaben dünken, dass alle Menschen in ihren Augen unbedeutend sind und tief unter ihnen stehen. „Ich bin nicht wie die übrigen Menschen“, sagte jener dumme Pharisäer (Lk 18,11).
Andere sind zwar nicht so offenkundig hochmütig, haben aber eine gewisse selbstgefällige Freude an den Fehlern anderer, weil sie dann mehr im eingebildeten Besitz der entgegengesetzten guten Eigenschaften schwelgen und mit ihnen großtun können. Diese Selbstgefälligkeit ist so versteckt und getarnt, dass man sie nicht entdeckt, wenn man nicht sehr gute Augen hat. Selbst die davon befallen sind, erkennen sie nicht, wenn man sie nicht darauf aufmerksam macht.
Gewisse Leute stellen mit Befriedigung fest, dass andere vom gleichen oder mit einem anderen ebenso hässlichen Fehler behaftet sind, um sich selbst zu schmeicheln, vor dem eigenen Gewissen zu entschuldigen und dieses zum Schweigen zu bringen. Sie scheinen zu glauben, dass ihre Sünden weniger schwer wiegen, wenn die Zahl der Missetäter größer ist.
Andere geben sich dem freventlichen Urteilen hin aus Freude am Philosophieren, um die sittliche und charakterliche Haltung der anderen zu studieren und die Schärfe des eigenen Geistes zu erproben. Kommt es nun zuweilen vor, dass sie das Richtige getroffen haben, dann wächst ihr Übermut und die Freude am Urteilen so sehr, dass man alle Mühe hat, sie wieder davon abzubringen.
Wieder andere urteilen aus Leidenschaft. Sie denken immer nur gut von denen, die sie lieben, und nur schlecht von jenen, die sie hassen. Allerdings tritt immer wieder der sonderbare Fall ein, dass eine übertriebene Liebe zu einem falschen Urteil über den Gegenstand der Liebe führt: ungeheuerliche Wirkung der Liebe, freilich einer unechten, unvollkommenen, verwirrten und krankhaften Liebe. Ich meine damit die Eifersucht, die schon auf einen Blick, auf das harmloseste Lächeln hin andere der Untreue und des Ehebruchs beschuldigt.
Endlich tragen auch Furcht, Ehrsucht und andere Mängel des Geistes vielfach zu Verdächtigungen und freventlichen Urteilen bei.
Was gibt es nun für Gegenmittel? Wer den Saft der äthiopischen Schlangenpflanze trinkt, glaubt überall Schlangen und schreckliches Gewürm zu sehen. Wer von Hochmut, Neid, Ehrsucht und Hass eingenommen ist, sieht überall nur Schlechtes und Tadelnswertes. Die einen müssen als Heilmittel Palmwein trinken, den anderen rate ich: trinkt möglichst viel vom heiligen Wein der Liebe! Sie wird euch von diesem Gift befreien, das euch stets zu falschen Urteilen verleitet. Die Liebe fürchtet, dem Schlechten zu begegnen, und ist weit davon entfernt, es zu suchen. Begegnet sie ihm, dann wendet sie den Blick ab und tut, als sähe sie nichts, ja sie schließt schon beim leisesten Geräusch die Augen und glaubt dann in heiliger Einfalt, es sei nicht das Schlechte gewesen, sondern nur ein Schatten, ein Traumbild davon. Ist sie aber gezwungen, es als das Schlechte zu erkennen, so wendet sie sich sofort davon ab und sucht seinen Anblick zu vergessen.
Die Liebe ist das wirksamste Heilmittel gegen jedes Übel, besonders gegen dieses. Den Augen der Gelbsüchtigen erscheint alles gelb; es heißt, sie werden gesund, wenn sie Schellkraut unter die Fußsohlen legen. Das Laster des freventlichen Urteils ist eine geistige Gelbsucht; sie lässt in den Augen der von ihr Befallenen alles schlecht erscheinen. Wer davon geheilt werden will, muss das Pflaster nicht auf die Augen oder den Verstand legen, sondern auf die Affekte, die man vergleichsweise die Füße der Seele nennen kann. Sind deine Affekte, deine Gesinnung gütig, so wird auch dein Urteil gütig sein; sind sie liebevoll, wird auch dein Urteil liebevoll sein.
Das will ich dir an drei trefflichen Beispielen beweisen. Isaak hatte gesagt, Rebekka sei seine Schwester. Abimelech sah nun, wie er mit ihr spielte, d. h. sie zärtlich liebkoste. Er folgerte daraus, dass sie seine Frau sei (Gen 26,7–9). Ein argwöhnischer Geist hätte geurteilt, dass Rebekka ein schlechtes Weib sei, oder wenn seine Schwester, dass dann Isaak in Blutschande mit ihr lebte. Abimelech aber nahm das an, was am ehesten der Liebe entsprach. – So musst auch du immer zugunsten des Nächsten urteilen, soweit es nur möglich ist. Hätte eine Handlung hundert Gesichter, so sollst du das schönste ansehen.
Als Unsere liebe Frau ihr Kindlein unter dem Herzen trug, konnte der hl. Josef, als er es bemerkte, nicht an einen Fehltritt glauben, da er sie ganz rein, heilig und engelgleich wusste; so entschloss er sich, sie zu verlassen und das Urteil Gott anheim zu stellen. Obwohl alle Anzeichen gegen die Jungfrau sprachen, erlaubte er sich doch kein Urteil. Warum wohl? Weil er, wie der Geist Gottes bezeugt, gerecht war (Mt 1,19). Wenn der Gerechte bei einem sonst als anständig bekannten Menschen weder die Tatsache noch die Absicht entschuldigen kann, will er doch nicht urteilen, sondern wendet sich ab und überlässt Gott das Urteil.
Der gekreuzigte Heiland konnte zwar nicht die Sünde seiner Peiniger entschuldigen, doch schwächte er wenigstens ihre Bosheit ab, die er mit ihrer Unwissenheit begründet (Lk 23,34). Wenn wir auch die Sünde nicht entschuldigen können, so wollen wir doch Mitleid haben und sie der noch am ehesten erträglichen Ursache zuschreiben, wie der Unwissenheit oder Schwäche.
Darf man also niemals über den Nächsten urteilen? Nein, gewiss nicht. Gott urteilt über die Verbrecher im Gericht. Er bedient sich wohl der Stimme staatlicher Beamter, um sich unseren Ohren vernehmbar zu machen. Sie sind seine Dolmetscher und dürfen nichts aussprechen, was sie nicht von ihm wissen, da sie nur seine Sprecher sind. Handeln sie anders, folgen sie ihren Leidenschaften, dann richten sie selbst und werden demnach auch gerichtet werden, denn es steht keinem Menschen zu, als Mensch andere zu richten.
Etwas sehen und wissen, heißt noch nicht urteilen. Das Richten setzt nach der Heiligen Schrift eine große oder kleine, wirkliche oder scheinbare Schwierigkeit voraus, die überwunden werden muss. Deshalb sagt auch die Heilige Schrift, dass die Ungläubigen schon gerichtet sind (Joh 3,18), weil es über ihre Verdammnis keinen Zweifel geben kann. Es ist deshalb noch kein Unrecht, wenn man über Mitmenschen Zweifel hegt; denn nicht der Zweifel ist verboten, sondern das Richten. Allerdings darf man nur zweifeln und argwöhnen, soweit Gründe und Beweise uns dazu zwingen, sonst wären auch Zweifel und Argwohn freventlich. Wenn irgendein übel wollender Mensch Jakob gesehen hätte, als er Rahel am Jakobsbrunnen küsste (Gen 29,11), oder Rebekka, als sie von dem in ihrer Gegend ganz unbekannten Elieser die Armspangen und Ohrgehänge annahm (ebd. 24,22), so hätte er gewiss von diesen zwei vorbildlich reinen Menschen zu Unrecht schlecht gedacht. Denn wenn eine Handlung an sich weder gut noch schlecht ist, dann ist es ein freventlicher Argwohn, daraus schlechte Folgerungen zu ziehen, außer es gäben verschiedene Umstände den Gründen Gewicht. Ein freventliches Urteil ist es auch, aus einer Handlung weitgehende Folgerungen zu ziehen, und jemand ihretwegen schlechte Eigenschaften zuzuschreiben. Darüber muss ich mich noch deutlicher ausdrücken.
Wer um das eigene Gewissen wirklich Sorge trägt, wird schwerlich in den Fehler eines freventlichen Urteils verfallen. Wenn die Bienen sehen, dass es neblig ist, ziehen sie sich in den Stock zurück und beschäftigen sich mit dem Honig. So befassen sich auch die Gedanken guter Menschen nicht mit unklaren und nebelhaften Handlungen ihrer Mitmenschen, sondern ziehen sich in das eigene Herz zurück, um sich dort mit guten Vorsätzen für den eigenen Fortschritt zu beschäftigen. Nur müßige Seelen finden ein Vergnügen daran, das Leben anderer Leute zu untersuchen.
Davon nehme ich jene aus, die Verantwortung für andere tragen, sei es nun in der Familie oder in der Gesellschaft. Sie sind im Gewissen verpflichtet, auf das Gewissen der anderen zu achten und darüber zu wachen. Sie mögen ihre Pflicht in Liebe erfüllen, sonst aber sich in dieser Hinsicht zurückhalten.

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