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  20. Kapitel
    Der  Unterschied zwischen echter und eitler Freundschaft.
  Vernimm diese wichtige Weisung: Der überaus giftige Honig  von Heraklea hat dasselbe Aussehen wie jeder andere, der so heilsam ist. Es  besteht also große Gefahr, dass man den einen für den anderen nimmt oder beide  miteinander vermengt, denn die Güte des einen hebt die Schädlichkeit des  anderen nicht auf. Man muss also auf der Hut sein, um sich in der  Freundschaft nicht zu irren, besonders wenn sie zwischen Personen verschiedenen  Geschlechts besteht, unter welcher Begründung auch immer. Denn bei liebenden  Menschen gelingt es dem Teufel sehr oft, sie irrezuführen. Anfangs empfindet  man eine tugendhafte Liebe; lässt man aber die Vorsicht außer Acht, dann  schleicht sich bald eine leichtfertige Liebe ein, die zur sinnlichen und  schließlich zur fleischlichen wird. Sogar in der geistlichen Liebe liegen Gefahren,  wenn man nicht sehr auf der Hut ist, obwohl hier eine Irreführung nicht so  leicht ist, denn ihre Reinheit und Klarheit lässt jede vom Teufel versuchte  Trübung sogleich erkennen. Deshalb geht er hier auch viel schlauer zu Werke und  versucht, fast unmerklich Unreines sich einschleichen zu lassen.
    Du wirst die irdische Freundschaft von der heiligen,  tugendhaften an den gleichen Merkmalen unterscheiden, wie den Honig von  Heraklea von dem anderen.
    Der Honig von Heraklea erscheint der Zunge süßer als der andere,  denn der Aconit-Gehalt verstärkt die Süßigkeit. So steigert sich auch die  irdische Freundschaft durch viele süße Worte, kleine leidenschaftliche  Schmeicheleien und Lobreden auf die Schönheit, Anmut und auf sinnliche  Eigenschaften; die heilige Freundschaft aber führt eine einfache, offene  Sprache, sie kann nur die Tugend und die Gnade Gottes als ihre Grundlage  rühmen. 
    Der Genuss von herakleischem Honig verursacht ein  Schwindelgefühl im Kopf, die falsche Freundschaft aber eine Verwirrung im  Geist, so dass Keuschheit und Frömmigkeit ins Wanken geraten. Sie führt zu  schmachtenden, verliebten, unbeherrschten Blicken, zu sinnlichen  Zärtlichkeiten, zu unsinnigen Seufzern und kindischen Klagen, nicht geliebt zu  werden, zu kleinen, berechneten und auffallenden Gebärden, zu galanten  Aufmerksamkeiten und weiter zu Küssen, anderen Freiheiten und ungeziemenden  Liebesbezeigungen: lauter sichere und untrügliche Vorzeichen, dass die  Keuschheit bald verloren geht. Die heilige Freundschaft hat dagegen nur  einfache und klare Blicke, sie ist lauter und aufrichtig in ihrem herzlichen  Verhalten, sie sehnt sich nur nach dem Himmel, kennt Freiheiten nur für den  Geist, klagt höchstens, dass Gott nicht geliebt wird: zuverlässige Kennzeichen  der Reinheit.
    Der Honig von Heraklea trübt die Sehkraft. Auch irdische  Freundschaft trübt das Urteil; die in ihr Befangenen meinen gut zu  handeln, während sie in Wirklichkeit Schlechtes tun; sie glauben, dass ihre  Entschuldigungen, Vorwände und Ausreden stichhaltige Gründe seien; sie scheuen das  Licht und suchen die Finsternis. Die heilige Freundschaft aber hat hellsichtige  Augen, sie verbirgt sich nicht und erscheint gern vor Gutgesinnten. 
    Schließlich lässt der Honig von Heraklea eine große Bitterkeit  im Mund zurück. So wandelt sich auch die eitle Freundschaft: sie endet  schließlich in lüsternen, sündhaften Worten und Forderungen, ja – wenn ihr  nicht stattgegeben wird – in Beschimpfungen, Verleumdungen, Schmähungen,  Trübsinn, Schande und Eifersucht, die oft genug zur Vertierung und Raserei führen.  Die keusche Freundschaft dagegen ist immer anständig, höflich, liebenswürdig.  Sie wandelt sich nur in eine immer vollkommenere und reinere Seelengemeinschaft  um: ein lebendiges Bild der seligen Freundschaft, die im Himmel herrschen wird.
    Der hl. Gregor von Nazianz sagt: Wenn ein Pfau schreit und  sein Rad schlägt, erregt er das Weibchen. Benimmt sich ein Mann wie ein Pfau,  putzt er sich auf und stolziert einher, um einer Frau oder einem Mädchen  Schmeichelworte ins Ohr zu flüstern, ohne ernste Heiratsabsichten, dann will er  sie nur zur Unkeuschheit verführen. Eine Frau von Ehre wird dann ihre Ohren  verschließen, um nicht mehr den Pfauenschrei der Stimme des Betrügers zu hören,  der sie listig bezaubern will (vgl. Ps 58,6). Hört sie aber zu, dann ist das ein  schlimmes Vorzeichen, das den bevorstehenden Ruin ihres Herzens ahnen lässt.
    Junge Leute, die bei ihrem Verhalten, ihren Grimassen,  Zärtlichkeiten und Reden nicht von ihren Eltern oder Gatten oder von ihrem  Beichtvater beobachtet werden möchten, zeigen, dass ihre Ehre und ihr Gewissen  ausgeschaltet sind. Unsere liebe Frau erschrak, als sie einen Engel in  Menschengestalt erblickte, denn sie war allein und er spendete ihr höchstes,  wenn auch himmlisches Lob, – und da sollte ein unreines Wesen nicht einen Menschen,  selbst in Engelsgestalt, fürchten, wenn er ihr sinnliches und menschliches Lob  spendet?!
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