Verschiedene Ratschläge, um die Seele durch das Gebet und die Sakramente zu Gott zu erheben
Zweiter Teil
     
 

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9. Kapitel
Trockenheit bei der Betrachtung.

Kommt es vor, dass du an der Betrachtung keinen Geschmack und keine Freude findest, so bitte ich dich: beunruhige dich deshalb nicht! Verrichte in solchen Zeiten mündliche Gebete; klage beim Herrn über dich selbst, bekenne deine Unwürdigkeit, bitte ihn um seine Hilfe oder küsse sein Bild, wenn du es bei der Hand hast, und sprich mit Jakob: „Ich lasse nicht von Dir, o Herr, Du segnetest mich denn“ (Gen 32,26), oder mit der Kanaaniterin: „Ja, Herr, ich bin ein Hündlein, aber die Hunde fressen doch auch die Brosamen, die vom Tisch des Herrn abfallen“ (Mt 15,27). – Ein anderes Mal nimm ein Buch zur Hand, lies es aufmerksam, bis dein Geist wieder rege und ausgeruht ist. Oder sporne dein Herz an durch körperliche Bewegung oder fromme Haltung: kreuze z. B. deine Arme über der Brust, küsse das Kruzifix, wirf dich auf die Knie, – natürlich nur, wenn du allein für dich bist.
Empfindest du nach all dem noch immer keine Freude, dann rege dich darüber nicht auf, so groß auch die Dürre deiner Seele sein mag; bleib einfach in frommer Haltung vor Gott. Wie viele Höflinge betreten oft und oft im Laufe des Jahres die Gemächer des Fürsten, nur um von ihm gesehen zu werden und ihm ihre Aufwartung zu machen, ohne Hoffnung, ihn auch sprechen zu können. So müssen auch wir ganz schlicht und einfach vor Gott hintreten im Gebet, um unsere Pflicht zu erfüllen und unsere Treue zu zeigen. Gefällt es der göttlichen Majestät, mit uns zu sprechen und sich mit uns durch heilige Einsprechungen und Empfindungen der Freude zu unterhalten, dann soll es uns eine große Ehre und festliche Freude sein. Gefällt es aber Gott, uns diese Gnade nicht zu erweisen, lässt er uns stehen, ohne mit uns zu sprechen, als ob er uns gar nicht sähe und wir gar nicht in seiner Gegenwart wären, so dürfen wir trotzdem nicht fortgehen, sondern müssen im Gegenteil vor der unendlichen Güte in frommer und ruhiger Haltung verharren. Dann wird Gott unfehlbar unsere Geduld wohlgefällig aufnehmen, unsere unbeirrbare Beharrlichkeit sehen und ein anderes Mal, wenn wir wieder zu ihm kommen, uns mit seinen Freuden beschenken und uns die Seligkeit des heiligen Gebetes fühlen lassen. – Tut er es aber nicht, dann wollen wir uns auch damit zufrieden geben; es ist für uns schon eine zu große Ehre, bei ihm zu sein und von ihm gesehen zu werden.

 

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